Papst Pius IX.


1. Frühe Jahre

Giovanni Maria Mastai-Ferretti, der spätere Papst Pius IX., wurde am 13. Mai 1792 in der kleinen Stadt Senigallia im Kirchenstaat geboren. Er entstammte einer alten, adeligen Familie mit gemäßigt liberaler Prägung. Schon in jungen Jahren litt er unter epileptischen Anfällen, die nicht nur seine körperliche Gesundheit belasteten, sondern auch seine beruflichen Perspektiven einschränkten. Eine Karriere im Militär oder in der Verwaltung war unter diesen Umständen ausgeschlossen. Dennoch zeigte Giovanni Maria früh eine tiefe Religiosität und eine starke Bindung an die katholische Kirche. Seine Krankheit führte ihn zu einer intensiven Innerlichkeit und spirituellen Reifung, die ihn schließlich zur Entscheidung für das Priesteramt brachte.

Nach ersten Studien in Volterra und Rom wurde Mastai-Ferretti 1814 am Collegio Romano aufgenommen, musste dieses aber aufgrund seiner Gesundheit wieder verlassen. Trotzdem setzte er seine theologischen Studien fort und wurde am 10. April 1819 zum Priester geweiht. Papst Pius VII. erteilte ihm diese Genehmigung, doch sollte bei seinen Messen immer ein zweiter Priester anwesend sein. Tatsächlich hatte er nach seiner Priesterweihe nie wieder einen epileptischen Anfall erlitten.

Zunächst leitete er ein Waisenhaus für Knaben in Rom, das "Tata Giovanni", wo er seine große soziale Sensibilität und seine pastorale Fürsorge unter Beweis stellte. In dieser Zeit wurde er auch in der päpstlichen Verwaltung tätig und machte sich durch seine Tatkraft und seinen menschlichen Zugang einen Namen.

Eine wichtige Etappe seiner frühen Laufbahn war die Teilnahme an einer päpstlichen Mission nach Chile von 1823 bis 1825. In Begleitung des apostolischen Nuntius Giovanni Muzi reiste er nach Südamerika, um die diplomatischen Beziehungen des Heiligen Stuhls zu den neu gegründeten unabhängigen Republiken zu gestalten. Die Eindrücke dieser Reise – Begegnungen mit jungen Republiken, politischen Spannungen, sozialen Umbrüchen – sollten sein Denken tief prägen. Mastai-Ferretti kehrte mit einem erweiterten Blick auf die Welt zurück und entwickelte ein wachsendes Verständnis für die Herausforderung, Glaube und Moderne in Einklang zu bringen.

Im Jahr 1827 ernannte Papst Leo XII. ihn zum Bischof von Spoleto. In dieser Diözese zeigte er sich als ein Bischof mit sozialem Gewissen. Nach einem lokalen Aufstand 1831 gewährte er den Rebellen großzügige Amnestie, eine für die damalige Zeit ungewöhnlich versöhnliche Geste. Auch während eines schweren Erdbebens im gleichen Jahr half er tatkräftig bei der Versorgung der Opfer. Er setzte sich für Schulbildung und pastorale Erneuerung ein, was ihm in der Bevölkerung große Anerkennung einbrachte.


1832 wurde Mastai-Ferretti zum Erzbischof von Imola ernannt, einer wichtigen Diözese in der Emilia-Romagna. Dort gewann er weitere Anerkennung durch seine volksnahe Amtsführung, sein seelsorgliches Engagement und seine Offenheit gegenüber maßvollen politischen Reformen. In seinen Predigten sprach er sich für soziale Gerechtigkeit und moralische Erneuerung aus, aber auch für eine vorsichtige Annäherung zwischen Kirche und moderner Welt. Dabei blieb er in theologischen Fragen fest auf der Linie der kirchlichen Tradition.

1840 wurde er von Papst Gregor XVI. zum Kardinal erhoben – ein Zeichen des Vertrauens, obwohl Gregor für seine strikte konservative Politik bekannt war. Giovanni Maria Mastai-Ferretti galt zu dieser Zeit als theologisch solide, aber politisch offen. Er war kein Revolutionär, aber ein gemäßigter Reformer, der die Zeichen der Zeit erkannte und bereit war, mit Augenmaß auf die gesellschaftlichen Umbrüche seiner Epoche zu reagieren.

Nach dem Tod Gregors XVI. im Juni 1846 trat das Konklave in Rom zusammen. Der Kirchenstaat war damals durch innere Spannungen und den wachsenden Druck liberaler und nationaler Bewegungen schwer belastet. Im Konklave standen sich zwei Lager gegenüber: eine konservative Gruppe, die die repressive Linie Gregors fortführen wollte, und eine gemäßigte Fraktion, die eine Öffnung gegenüber Reformen suchte. Giovanni Maria Mastai-Ferretti galt als Kompromisskandidat, der beiden Seiten gewisse Hoffnung bot.


Am 16. Juni 1846 wurde er schließlich im Quirinalpalast zum Papst gewählt und nahm den Namen Pius IX. an – in Erinnerung an Papst Pius VII., der ihn einst persönlich gefördert hatte. Seine Wahl wurde in vielen Teilen Europas mit Hoffnung begrüßt: Die Liberalen sahen in ihm einen Papst der Erneuerung, die Konservativen vertrauten auf seine kirchliche Loyalität. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass sein Pontifikat – das mit 31 Jahren das längste der Kirchengeschichte werden sollte – einen dramatischen Wandel durchlaufen würde.

2. Papstkrönung und erste Reformen (1846)

Am 21. Juni 1846 wurde Giovanni Maria Mastai-Ferretti in einer feierlichen Zeremonie in der Peterskirche in Rom zum Papst gekrönt. Viele hofften, dass er, der als gemäßigter Kardinal galt, Reformen in den Kirchenstaat einführen würde. Noch während der Wahl war er von vielen als ein „Papst des Fortschritts“ gesehen worden, der ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen der Kirche und den politischen Bewegungen seiner Zeit finden würde. Er versprach zunächst eine Vielzahl von Maßnahmen, die den Kirchenstaat modernisieren sollten.


Pius IX. begann sein Pontifikat mit der Ernennung eines liberalen Ministers, Pietro Sterbini, der die Regierung des Kirchenstaates führen sollte. Im Juli 1846 veröffentlichte er das berühmte „Papstregierungsdekret“, in dem er versicherte, dass er beabsichtigte, die Zensur aufzuheben, politische Gefangene freizulassen und eine Verfassungsreform einzuleiten. Dies wurde von den Liberalen sowohl in Italien als auch in ganz Europa als eine längst fällige Wende begrüßt. Der Papst wirkte in dieser Phase wie ein moderner Herrscher, der die Zeichen der Zeit erkannt hatte.

3. Der liberale Frühling: Die ersten Zweifel

Die Erwartungen an Pius IX. als Reformer wurden besonders während des ersten Jahres seines Pontifikats hoch. Er begnadigte politische Gefangene, ließ Zeitungen ohne strikte Zensur erscheinen und kündigte an, eine Verfassung zu schaffen. In vielen italienischen Städten, wie zum Beispiel in Bologna und Rom, wurden liberale Bewegungen aktiv, die von der Papstwahl als Signal für einen politischen Wandel ausgingen. In diesem Klima des „Liberalismus“ wurde die Hoffnung auf nationale Einheit in Italien gestärkt, und auch die Beziehung zwischen Kirche und Staat schien einer Modernisierung zuzustimmen.


Allerdings begannen sich schnell die ersten Spannungen zu zeigen. Der Papst war zwar liberal in seinen Ankündigungen, aber er stand unter dem starken Druck der konservativen Kräfte innerhalb der Kirche und des Adels. Noch im Oktober 1846 begannen die ersten konservativen Gegenreaktionen. Pius IX. konnte die Erwartungen, die auf ihn gerichtet waren, nur schwer erfüllen, was zu zunehmenden Spannungen sowohl in seiner eigenen Regierung als auch in den katholischen Bewegungen Europas führte.

4. Die Revolutionen von 1848 und der Verlust der Kontrolle

Ab 1847 kamen die politischen Spannungen, die den Kirchenstaat betrafen, immer mehr zum Vorschein. In Rom selbst erhoben sich erste Unruhen, als die liberale Presse und die nationalistischen Bewegungen begannen, stärker zu werden. Diese Veränderungen in der Gesellschaft, gekoppelt mit den revolutionären Bewegungen, die in vielen europäischen Ländern begannen, setzten Pius IX. unter enormen Druck.


Ein entscheidender Wendepunkt war das Jahr 1848, als Revolutionen und Aufstände in zahlreichen Ländern Europa erschütterten. Auch Rom wurde zum Schauplatz politischer Unruhen. Pius IX. sah sich in einer zunehmend unhaltbaren Lage. Die Forderung nach einer italienischen Nationalregierung, an der der Papst sich politisch beteiligen sollte – insbesondere gegen das katholische Kaisertum Österreich –, war für ihn unannehmbar. Er weigerte sich, gegen ein anderes katholisches Land Krieg zu führen. Diese Haltung ließ ihn für viele Liberale und Nationalisten zum Verräter an der italienischen Einigungsidee werden.

Am 15. November 1848 wurde der päpstliche Premierminister Pellegrino Rossi von einem Aufständischen ermordet. Der Schock dieses Attentats stürzte Rom in Chaos. Bald wurde der Papstpalast vom Volk umzingelt, Pius IX. wurde faktisch zum Gefangenen im Quirinalspalast. Seine Weigerung, der revolutionären Gewalt nachzugeben, machte seine Lage zunehmend gefährlich.

5. Die Flucht: Ein Papst im Exil

In der Nacht vom 24. auf den 25. November 1848 entschloss sich Pius IX. zur Flucht aus Rom, ein Schritt, der seine persönliche Sicherheit retten und die päpstliche Würde wahren sollte. Als einfacher Geistlicher verkleidet und unter strengster Geheimhaltung verließ er den Quirinalspalast in einer schlichten Kutsche, begleitet von seinem treuen Sekretär Giovanni Antonelli. Die Route führte ihn durch Latium, an den Kontrollen vorbei, in Richtung Süden.


Die Flucht war ein demütigendes, aber zutiefst prägendes Erlebnis für Pius IX. Er, der höchste Repräsentant der katholischen Kirche, wurde zum Verfolgten im eigenen Land. Die Stationen der Reise – über Gaeta, wo er von König Ferdinand II. von Neapel aufgenommen wurde – waren geprägt von Unsicherheit, Sorge um die Kirche, aber auch von spiritueller Reflexion. In Gaeta, wohin er schließlich am 29. November gelangte, verbrachte Pius IX. mehrere Monate im Exil. Dort wurde er von katholischen Monarchen wie dem König von Neapel und bald auch vom französischen Präsidenten Louis-Napoléon Bonaparte unterstützt. Gaeta wurde zum Ort der Einkehr – aber auch zur Wiege eines neuen, viel strengeren Papsttums.

Während seines Aufenthalts in Gaeta zog sich der Papst nicht völlig aus der Welt zurück. Er nutzte die Zeit, um sich mit konservativen Beratern zu umgeben und seine Politik grundlegend zu überdenken. In seinem Rückzugsort reifte die Überzeugung, dass Kompromisse mit liberalen und säkularen Kräften zu einer Schwächung der Kirche führten. Die Erfahrungen von Verrat, Gewalt und Vertreibung ließen Pius IX. innerlich verhärten.

6. Rückkehr nach Rom (1850)

Nach der Niederschlagung der kurzlebigen Römischen Republik durch französische Truppen unter General Oudinot konnte Pius IX. wieder in seine Residenz im Vatikan zurückkehren. Doch der Papst, der Rom betrat, war nicht mehr der Reformer der frühen 1840er Jahre. Er hatte das Vertrauen in den politischen Liberalismus verloren, den er einst vorsichtig gefördert hatte. Fortan wandte sich Pius IX. strikt gegen jede Form des Nationalismus, Säkularismus und modernen Liberalismus. In seinen Augen hatten diese Strömungen zur moralischen Zerrüttung Europas und zur Bedrohung der Kirche geführt.


Die ersten Jahre nach seiner Rückkehr standen im Zeichen der Restauration. Pius IX. hob viele der liberalen Reformen auf, die er vor seiner Flucht eingeführt hatte. Die päpstliche Verwaltung wurde wieder zentralisiert, die Pressezensur verschärft und der Einfluss der Kirche auf Bildung und Gesellschaft gestärkt. Das Militär, das die Ordnung im Kirchenstaat sichern sollte, wurde nun von französischen und österreichischen Truppen gestützt.

7. Der Kampf gegen den Zeitgeist – Enzykliken und Dogmen

Pius IX. verstand sich zunehmend als geistliche Gegenfigur zur als gottlos empfundenen Moderne. In zahlreichen Enzykliken verurteilte er Rationalismus, Säkularismus, Nationalismus und vor allem den Liberalismus. Ein Höhepunkt dieser kirchenpolitischen Auseinandersetzung war das im Jahr 1864 veröffentlichte Lehrschreiben „Syllabus errorum“ (Verzeichnis der Irrtümer), in dem Pius IX. 80 „moderne Irrtümer“ anprangerte – darunter Religionsfreiheit, Pressefreiheit, die Trennung von Kirche und Staat und die Idee, dass der Papst sich dem Fortschritt anpassen müsse. Dieses Dokument löste in Europa eine Welle der Kritik aus, festigte aber seine Stellung bei konservativen Katholiken.


Gleichzeitig setzte Pius IX. bedeutende spirituelle Akzente. Bereits 1854 verkündete er das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens, ein bedeutender Schritt in Richtung der weiteren Dogmatisierung kirchlicher Lehren. Diese Verkündigung erfolgte ohne Rücksprache, was seine Haltung zur päpstlichen Autorität deutlich machte. Die Krönung seiner Lehrautorität sollte jedoch später durch das Erste Vatikanische Konzil (1869–1870) erfolgen.

8. Nationalstaatliche Umbrüche und die Bedrohung des Kirchenstaates

Während Pius IX. in Rom die kirchliche Zentralgewalt festigte, veränderte sich die politische Lage in Italien grundlegend. Die Bewegung der italienischen Einigung (Risorgimento), getragen von Persönlichkeiten wie Giuseppe Garibaldi, Camillo Cavour und König Viktor Emanuel II., strebte nach der Vereinigung der vielen italienischen Kleinstaaten – darunter auch des Kirchenstaates – zu einem Nationalstaat.


Pius IX. widersetzte sich diesem Prozess vehement. Für ihn war der Kirchenstaat – das weltliche Territorium des Papstes – die Voraussetzung für die Unabhängigkeit der Kirche. Er sah sich nicht nur als Bischof von Rom, sondern auch als souveräner Monarch. Daher lehnte er jede Eingliederung seiner Gebiete in das neue Italien ab. Doch dieser Widerstand konnte den politischen Wandel nicht aufhalten.

Nach der erfolgreichen Eingliederung der Lombardei, Toskana und anderer Gebiete in das Königreich Italien geriet auch der Kirchenstaat zunehmend unter Druck. Im Jahr 1860 wurden große Teile seiner Ländereien militärisch besetzt, nur Latium mit Rom verblieb unter päpstlicher Kontrolle – geschützt durch französische Truppen. Dies führte dazu, dass Pius IX. sich zunehmend isoliert fühlte. In seiner öffentlichen Selbstdarstellung wurde er zum „Gefangenen des Vatikans“, obwohl er de facto noch die Kontrolle über Rom ausübte.

9. Das Erste Vatikanische Konzil und die Unfehlbarkeit (1869–1870)

Trotz der politischen Krisen versuchte Pius IX., die geistliche Macht der Kirche zu stärken. 1869 eröffnete er das Erste Vatikanische Konzil, das erste ökumenische Konzil seit dem Trienter Konzil im 16. Jahrhundert. Ziel war es, die geistige Einheit der Kirche angesichts der um sich greifenden modernen Ideologien zu festigen.

Der Höhepunkt des Konzils war die Verabschiedung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit im Juli 1870. Diese Entscheidung wurde nicht ohne Kontroversen getroffen, viele Bischöfe verließen vorzeitig das Konzil, doch sie wurde mit klarer Mehrheit verabschiedet.

10. Der Fall Roms und das Ende des Kirchenstaates (1870)

Im Jahr 1870 spitzte sich die Lage für den päpstlichen Kirchenstaat dramatisch zu. Der Schutz, den französische Truppen unter Napoleon III. dem Papst seit 1849 gewährt hatten, war plötzlich nicht mehr gegeben. Mit dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs im Juli 1870 zog Frankreich seine Garnison aus Rom ab, um die Truppen an der Heimatfront einzusetzen. Damit stand der Kirchenstaat militärisch weitgehend schutzlos da.


Die italienische Regierung unter König Viktor Emanuel II. nutzte diese Gelegenheit. Schon lange war Rom das ersehnte Ziel des Risorgimento und sollte die Einigung Italiens vollenden. Zwar schickte Viktor Emanuel dem Papst ein Schreiben, in dem er um die kampflose Übergabe der Stadt bat, doch Pius IX. lehnte dies kategorisch ab. Für ihn wäre eine freiwillige Abtretung Roms einem Verzicht auf die göttlich legitimierte Unabhängigkeit des Papsttums gleichgekommen. Dennoch wollte er ein größeres Blutvergießen vermeiden.

Am 20. September 1870 rückten etwa 50.000 italienische Soldaten unter General Raffaele Cadorna auf Rom vor. Die Verteidigung Roms durch die päpstliche Armee – rund 13.000 Mann, schlecht ausgerüstet und schwach organisiert – war symbolischer Natur. Gegen 5:00 Uhr morgens begann die italienische Artillerie mit dem Beschuss der Stadt. Gegen 9:45 Uhr wurde an der Porta Pia, einem Tor in der Aurelianischen Stadtmauer, eine Bresche geschossen. Italienische Truppen stürmten durch das Loch in die Stadt, es kam zu kurzen Kämpfen, etwa an der Villa Albani, doch der Widerstand war schnell gebrochen.

Nach wenigen Stunden war Rom in italienischer Hand. Auf Anordnung Pius’ IX. kapitulierte die päpstliche Armee, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Noch am selben Tag wurde die weiße Fahne über dem Vatikan gehisst. Pius IX. zog sich in den Apostolischen Palast zurück und sprach von einem Akt der Gewalt gegen die Kirche.


Einige Tage später, am 2. Oktober 1870, bestätigte eine von der italienischen Regierung durchgeführte Volksabstimmung den Anschluss Roms an das Königreich Italien mit überwältigender Mehrheit – obwohl sie von der Kirche als illegitim betrachtet wurde. Rom wurde zur Hauptstadt des neuen, vereinten Italienischen Nationalstaats erklärt. Der Kirchenstaat, der seit dem 8. Jahrhundert bestanden hatte, hörte damit auf zu existieren.

Pius IX. weigerte sich bis zu seinem Tod, die Legitimität des neuen italienischen Staates anzuerkennen. In seiner Selbstdarstellung stilisierte er sich zum „Gefangenen im Vatikan“, obwohl ihm theoretisch Bewegungsfreiheit gewährt worden war. Er verweigerte jeden Kontakt mit dem italienischen Staat, lehnte dessen Gesetze ab und untersagte katholischen Bürgern, politische Ämter zu bekleiden oder sich an Wahlen zu beteiligen – die sogenannte „Non expedit“-Politik. Damit entstand ein jahrzehntelanger Bruch zwischen Kirche und Staat, der erst mit den Lateranverträgen von 1929 unter Pius XI. offiziell beigelegt wurde.

Trotz des politischen Niedergangs gelang es Pius IX., das Papsttum geistlich zu stärken. Der Verlust weltlicher Macht führte zu einer Konzentration auf die spirituelle Führungsrolle, die sich im wachsenden Einfluss des Papstes auf das weltweite Katholizismusbewusstsein niederschlug. Doch für Pius IX. selbst bedeutete der Fall Roms einen schmerzlichen Einschnitt – den endgültigen Zusammenbruch der päpstlichen Territorialherrschaft und den Beginn einer neuen Epoche.

11. Leben nach dem Fall Roms (1870–1878)

Nach dem Fall Roms am 20. September 1870 und dem damit verbundenen Verlust des Kirchenstaates war Papst Pius IX. nicht mehr weltlicher Herrscher, sondern ausschließlich geistliches Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche. Doch gerade in dieser Phase seines Lebens wurde sein Pontifikat zu einem Wendepunkt in der Geschichte des Papsttums. Die päpstliche Territorialmacht war verloren, doch zugleich wuchs seine geistliche Autorität weltweit.


Nach dem Einmarsch der italienischen Truppen zog sich Pius IX. vollständig in den Vatikanpalast zurück. Er bezeichnete sich fortan als „Gefangener im Vatikan“, obwohl ihm von Seiten der neuen italienischen Regierung durchaus Bewegungsfreiheit zugestanden worden war. Diese Selbstisolierung war ein bewusster politischer Akt: Er wollte damit den Protest gegen die Annexion Roms unterstreichen und verhindern, dass sein Verhalten als stillschweigende Anerkennung der neuen Machtverhältnisse verstanden würde.

Der Papst verweigerte jede Kommunikation mit dem neuen italienischen Staat. Die von der Regierung 1871 erlassene „Garantiengesetzgebung“, welche dem Papst gewisse Privilegien wie Immunität, freie Kommunikation und eine jährliche Apanage zusichern wollte, lehnte er strikt ab. Pius IX. betrachtete sich weiterhin als rechtmäßiger Herrscher über Rom und den gesamten Kirchenstaat, auch wenn er de facto keine weltliche Macht mehr ausübte.

12. Geistlicher Wiederaufstieg und internationales Ansehen

Inmitten dieser politischen Isolation konzentrierte sich Pius IX. ganz auf die spirituelle Leitung der Kirche. Der Verlust der weltlichen Macht führte zu einer verstärkten Betonung der päpstlichen geistlichen Autorität. Durch Enzykliken, Bischofsernennungen, Missionsaktivitäten und die weitere Umsetzung der Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils baute Pius IX. seine Rolle als geistliches Oberhaupt einer zunehmend globalisierten Kirche aus.


Besondere Bedeutung gewann das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit, das im Juli 1870 – kurz vor dem Fall Roms – beim Konzil verabschiedet worden war. Auch wenn das Konzil wegen des Krieges und der politischen Umwälzungen vorzeitig abgebrochen wurde, blieb das Dogma bestehen und wurde zum identitätsstiftenden Element des modernen Papsttums. Die päpstliche Stimme sollte fortan die höchste und letztverbindliche Instanz in Glaubensfragen sein – eine Vorstellung, die in vielen katholischen Kreisen große Verehrung, in liberalen Gesellschaften jedoch scharfe Kritik auslöste.

Trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem italienischen Staat pflegte Pius IX. intensive Kontakte mit anderen katholischen Ländern. Insbesondere in Deutschland, Österreich, Frankreich, Spanien, Polen und Lateinamerika fand seine autoritative Haltung Zustimmung. In den Vereinigten Staaten, wo sich der Katholizismus durch die Einwanderung stark ausbreitete, nahm die Bedeutung des Papstes sogar deutlich zu.

Pius IX. förderte weltweit den Ausbau kirchlicher Strukturen: Er gründete zahlreiche neue Diözesen, unterstützte katholische Universitäten und Missionswerke und sandte Nuntien (päpstliche Gesandte) in alle Welt. Die Kirche wurde unter seiner Führung zunehmend zentralisiert und hierarchisch organisiert.

13. Kulturkampf und weltweite Spannungen

Während sich Pius IX. in der katholischen Welt einer gewissen Verehrung erfreute, nahm der Widerstand gegen den autoritären Kurs des Vatikans in mehreren Ländern zu. Insbesondere in Deutschland kam es ab 1871 unter Reichskanzler Otto von Bismarck zum sogenannten Kulturkampf – einer Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche über Einfluss, Schulaufsicht, Priesterausbildung und kirchliche Autorität.


Pius IX. verurteilte die antikirchliche Gesetzgebung in Preußen und sprach sich gegen jede staatliche Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten aus. In mehreren Enzykliken kritisierte er das moderne Nationalstaatsdenken, den Säkularismus und die Aufhebung kirchlicher Privilegien. Der Papst unterstützte die deutschen Bischöfe in ihrem Widerstand, auch wenn dies zur Eskalation der Spannungen beitrug.

Ähnliche Konflikte erlebte die katholische Kirche unter seinem Pontifikat auch in Frankreich, der Schweiz und Italien selbst. Dennoch nutzte Pius IX. gerade die Polarisierung, um sich als überstaatliche, moralische Instanz zu positionieren – losgelöst von territorialen Ansprüchen, aber mit weltweiter geistlicher Geltung.

14. Krankheit und Tod

In seinen letzten Lebensjahren war Pius IX. von schwerer Krankheit gezeichnet. Er litt unter Arthritis, zeitweise unter Lähmungserscheinungen und musste sich in einem Rollstuhl fortbewegen. Dennoch blieb er geistig bis zuletzt rege und verfolgte aufmerksam das Geschehen in Kirche und Welt. Er empfing täglich Audienzen, feierte die Messe und blieb ein aktives Oberhaupt seiner Kirche.

Am 7. Februar 1878 starb Pius IX. nach kurzer schwerer Krankheit im Apostolischen Palast im Vatikan im Alter von 85 Jahren. Mit über 31 Jahren Pontifikat war er der am längsten amtierende Papst der Kirchengeschichte – bis zum 21. Jahrhundert, als Johannes Paul II. ihm in der Länge nahekamen. Der Tod von Pius IX. markierte das Ende eines Zeitalters.

Seine Beisetzung wurde durch politische Spannungen überschattet. Zwar fand die erste Trauerfeier unter großer Anteilnahme statt, doch bei der nächtlichen Überführung seines Leichnams in die Basilika San Lorenzo fuori le Mura kam es zu Ausschreitungen antiklerikaler Demonstranten, die den Sarg mit Steinen bewarfen und versuchten, ihn in den Tiber zu werfen. Nur durch das entschlossene Eingreifen der Gläubigen konnte dies verhindert werden.

15. Charakter

Papst Pius IX. war eine der faszinierendsten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts – ein Mensch voller Gegensätze, lebendiger Emotionen und tiefgreifender Überzeugungen. Sein Wesen war geprägt von einer ungewöhnlichen Mischung aus Herzlichkeit, Impulsivität, tiefem Glauben und unbeirrbarer Prinzipientreue. In jungen Jahren zeigte er sich als freundlich, aufgeschlossen und volksnah. Er sprach gerne mit einfachen Menschen, interessierte sich für ihre Sorgen und wirkte zugänglich, fast väterlich. Diese natürliche Herzenswärme blieb ihm auch als Papst erhalten, wenngleich sie mit den Jahren hinter einem zunehmend ernsteren und wachsamer werdenden Gesichtsausdruck zurücktrat.

Emotionalität war ein zentrales Merkmal seines Charakters. Pius IX. konnte leicht gerührt werden, war zu spontanen Tränen ebenso fähig wie zu überschwänglicher Freude. Er lachte oft herzlich, war für seinen scharfen, manchmal trockenen Humor bekannt und scheute sich nicht, bei öffentlichen Auftritten auch einmal zu improvisieren. Gleichzeitig war er äußerst temperamentvoll. In vertrauten Kreisen konnte er laut und heftig werden, wenn ihn etwas empörte – eine Eigenschaft, die manche als Ausdruck leidenschaftlicher Aufrichtigkeit, andere als Zeichen mangelnder Selbstkontrolle deuteten.

Sein Gerechtigkeitssinn war stark ausgeprägt. Er fühlte sich tief verpflichtet, moralische Klarheit zu wahren, und war überzeugt, dass der Papst als oberster Hirte der Kirche in Zeiten geistiger und politischer Umwälzung besonders standhaft sein müsse. Diese innere Überzeugung ging mit einer gewissen Sturheit einher. Einmal gefällte Entscheidungen widerrief er nur selten. Er konnte zuhören, doch sobald er sich einer Wahrheit sicher war, blieb er dabei – oft auch gegen Widerstand. Das machte ihn zu einem konsequenten, aber nicht immer diplomatischen Charakter.

Pius IX. war stark von seiner Spiritualität geprägt. Sein Gottesbild war zutiefst personal und voller Vertrauen, er verehrte Maria mit großer Innigkeit und sprach häufig vom Trost des Gebets. Diese spirituelle Tiefe verlieh ihm eine Aura des Erhabenen, ließ ihn jedoch auch weltliche Entwicklungen zunehmend mit Skepsis begegnen. Er empfand sich selbst als von Gott eingesetzt – nicht als Herrscher im politischen Sinn, sondern als geistliches Fundament einer bedrohten Weltordnung. Seine Persönlichkeit verband sich so mit einer fast mystischen Vorstellung des Papsttums, das über der Zeit stehen und der Wahrheit verpflichtet bleiben müsse.

Im privaten Umgang war Pius IX. durchaus lebensnah. Er liebte einfache Mahlzeiten, bevorzugte bodenständige Küche und hatte eine besondere Vorliebe für das traditionelle römische Gericht pasta e fagioli – Nudeln mit Bohnen. Diese schlichte, aber nahrhafte Speise entsprach seinem eher bescheidenen Lebensstil und spiegelte seine Verwurzelung in der italienischen Alltagskultur wider. Seine Freude an Musik und liturgischer Schönheit war Ausdruck eines ausgeprägten ästhetischen Empfindens. Er war kein Intellektueller im engeren Sinn, aber ein wacher, neugieriger Geist mit starkem Gedächtnis und einem Gespür für das Wesentliche.

Seine Persönlichkeit war weder kühl noch formal – im Gegenteil: Wer ihm begegnete, erlebte eine unmittelbare Präsenz. In seinem Auftreten vereinten sich väterliche Güte, religiöse Autorität und gelegentliche Strenge zu einer einzigartigen Mischung, die viele faszinierte, manche aber auch befremdete. Gerade diese Spannung zwischen Sanftmut und Unbeugsamkeit, zwischen Volksnähe und dogmatischer Klarheit, machte Pius IX. zu einer der eindrucksvollsten Figuren der modernen Kirchengeschichte.

16. Erscheinung

Papst Pius IX. hatte eine mittelgroße Statur, mit einer kräftigen und stabilen Körperbauweise, der ihm eine gewisse Würde und Präsenz verlieh, ohne dass er übermäßig groß oder imposant war. Er war etwa 1,70 Meter groß und hatte einen eher kompakten Körper, der nicht schmal, aber auch nicht übermäßig breit war. Seine Figur wirkte robust, passend zu seiner aktiven Lebensweise, die ihn trotz seines fortschreitenden Alters physisch stark hielt.


Sein Gesicht war markant, mit einer vollen Wangenpartie und einem kräftigen Kinn, das eine gewisse Entschlossenheit und Autorität ausstrahlte. Die Augenfarbe von Pius IX. war ein dunkles Braun, und seine Augen wurden oft als durchdringend und ausdrucksstark beschrieben. Sie reflektierten eine tiefe Innenschau und eine gewisse Warmherzigkeit, die in starkem Kontrast zu seiner oft als ernst empfundenen äußeren Erscheinung standen.

Was seine Haare betrifft, so waren sie zu Beginn seines Pontifikats dunkelbraun. Im Laufe der Jahre, besonders in seinen späteren Jahren, wurden sie weiß und immer dünner.

17. Alltagsleben

Der Alltag von Papst Pius IX. war von einer beeindruckenden Disziplin und einem starken religiösen Engagement geprägt. Er begann seinen Tag früh, meistens gegen fünf Uhr morgens, mit persönlichen Gebeten und der Feier der Heiligen Messe, die für ihn ein zentrales Ritual war. Auch wenn er als Papst zahlreiche administrative Aufgaben zu bewältigen hatte, stellte er das Gebet stets an erste Stelle. Nach der Messe widmete er sich einer ersten Arbeitsphase, die oft das Durchsehen von Briefen und die Besprechung kirchlicher Angelegenheiten mit seinen engsten Beratern beinhaltete. Er war bekannt dafür, stets die Verbindung zur Kirche auf der ganzen Welt zu pflegen und sich regelmäßig mit Diplomaten, Kardinälen und Bischöfen auszutauschen.


Sein Frühstück war schlicht, meist bestehend aus frischen Brötchen, Obst und Kaffee – eine leichte Mahlzeit, die ihm genügend Energie für den bevorstehenden Tag verschaffte. Der Vormittag war dann oft mit Audienzen ausgefüllt. Der Papst empfing Gläubige und Würdenträger, um ihre Anliegen zu hören, Ratschläge zu erteilen und die geistlichen Belange der Kirche zu besprechen. Diese Treffen, die sowohl diplomatisch als auch spirituell waren, dauerten oft mehrere Stunden.

Das Mittagessen war ebenfalls eine eher einfache Angelegenheit und fand gegen 12:30 Uhr statt. Pius IX. bevorzugte nahrhafte, aber nicht aufwendige Mahlzeiten, und eine seiner Lieblingsspeisen war das traditionelle römische Gericht pasta e fagioli – Nudeln mit Bohnen. Im Anschluss an das Mittagessen nahm er sich oft Zeit, um administrative Aufgaben fortzusetzen oder sich weiter mit theologischen Fragen zu befassen. Der Nachmittag war auch der Zeit gewidmet, in der der Papst an kirchlichen Zeremonien teilnahm oder diese leitete, und er besuchte häufig die Päpstliche Kapelle, um den Gottesdienst zu feiern.

Das Abendessen war eine ruhige, bescheidene Mahlzeit, die meist gegen 19:00 Uhr eingenommen wurde. Der Abend war für Pius IX. ein Moment der Entspannung und des Nachdenkens, oft begleitet von Gesprächen mit seinen engsten Vertrauten oder von spirituellen Überlegungen. Nach dem Abendessen zog sich der Papst in seine privaten Gemächer zurück, wo er Zeit für private Gebete und eine innere Einkehr fand. Er legte großen Wert darauf, den Tag mit einem Moment der Ruhe zu beenden, um sich geistig und körperlich auf die Herausforderungen des nächsten Tages vorzubereiten.

Papst Pius VI.

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