Ein Gespräch mit Bernard von Clairvaux über Spiritualität, Askese und die Suche nach Gott.


„Die Seele hungert – und wir geben ihr oft nur Steine."


Frage: Herr Abt, wenn wir heute über „Spiritualität“ sprechen, dann ist damit oft etwas sehr Weites gemeint: Achtsamkeit, Meditation, innere Balance. Was verstehen Sie unter Spiritualität?

Bernard von Clairvaux: Wenn Sie von „innerer Balance“ sprechen, dann klingt das für mich wie das Austarieren einer Waage. Die Seele ist aber keine Waage. Sie ist Hunger und Durst, sie verlangt nach etwas, das sie übersteigt. Spiritualität ist nicht eine Technik, nicht eine Methode zur Selbstoptimierung. Sie ist vielmehr ein Weg, auf dem der Mensch den Blick von sich selbst löst und sich auf Gott hin ausrichtet. Der Mensch trägt eine Leere in sich, die kein Besitz, keine Leistung, keine Zuneigung eines anderen füllen kann. Nur das Göttliche vermag diese Leere zu stillen. Spiritualität bedeutet also: lernen, diese Sehnsucht ernst zu nehmen und sich nicht mit Surrogaten zu begnügen.


Frage: Viele würden entgegnen: Aber sind Besitz, Zuneigung, Erfolg nicht auch Formen der Erfüllung? Warum so radikal die Abkehr davon?

Bernard von Clairvaux: Ich sage nicht, dass diese Dinge wertlos seien. Sie haben ihre Stelle im Leben – wie Brot den Leib nährt. Aber wer glaubt, dass allein Brot genügt, verkennt, dass der Mensch nicht nur Leib ist. Der Mensch, so wie ich ihn sehe, ist zur Ewigkeit hin geschaffen. Wenn er seine Sehnsucht mit zeitlichen Dingen sättigen will, dann gleicht er einem Menschen, der Meerwasser trinkt: Je mehr er davon nimmt, desto größer sein Durst. Spiritualität heißt: zu unterscheiden, was wirklich nährt, und was nur Blendwerk ist.


Frage: Sie selbst haben als Abt von Clairvaux einen sehr strengen, fast asketischen Lebensstil eingefordert. Kritiker werfen Ihnen vor, Sie hätten den Menschen damit zu viel genommen – Freude, Genuss, sogar Freiheit. War das nicht eine Form geistlicher Strenge, die am Ende den Menschen mehr einengte als befreite?

Bernard von Clairvaux: Eine harte, aber berechtigte Frage. Ja, meine Forderungen waren streng. Und ich habe nicht nur Lob, sondern auch Widerstand geerntet. Doch Askese ist nicht Selbstzweck. Sie ist kein Lobgesang auf das Leid, sondern eine Disziplin, die den Blick klärt. Wer alles kosten will, verliert am Ende den Geschmack. Wer aber Maß hält, entdeckt die Tiefe. Ich fürchte, die moderne Welt hat den Geschmack an der Tiefe verloren. Sie eilt von Erlebnis zu Erlebnis – und nennt das Freiheit. Aber Freiheit ist nicht, jedem Impuls zu folgen. Freiheit ist, nicht von Impulsen beherrscht zu sein.


Frage: Sie sprechen von „Tiefe“. Wie findet man die – konkret? Viele Menschen heute sagen: Ich habe keine Zeit für Klöster, für lange Gebete, für strenge Fastenübungen. Gibt es überhaupt eine Form von Spiritualität für den Alltag?

Bernard von Clairvaux: Unbedingt. Gott ist nicht nur im Chorgestühl, er ist auch im Geräusch der Werkstatt, im Gespräch mit einem Kind, in der Sorge um einen Kranken. Das Entscheidende ist die innere Haltung: Lebe ich so, dass ich im Tun Gott suche, oder lebe ich so, dass ich mich selbst verherrliche? Wer im Alltag eine Haltung des Hörens einübt – auf das, was größer ist als er –, der ist schon auf dem geistlichen Weg. Aber er darf nicht erwarten, dass dieser Weg mühelos sei. Auch die Liebe in einer Ehe ist kein Dauerzustand der Leichtigkeit, sondern Arbeit, Treue, Geduld. Spiritualität ist dasselbe: eine Liebesgeschichte, die Anstrengung verlangt.


Frage: Sie klingen kompromisslos. Gibt es in Ihrer Vorstellung überhaupt Raum für Zweifel, für Brüche, für Schwäche?

Bernard von Clairvaux: Zweifel sind kein Feind der Spiritualität – sie sind oft ihr Anfang. Der Mensch, der fragt, der ringt, der weint: er ist Gott näher als der, der seine Seele mit Oberflächlichkeit zudeckt. Ich habe selbst Nächte der Dunkelheit gekannt, in denen Gott schwieg. Aber gerade dort wächst die Sehnsucht. Was ich fürchte, ist nicht der Zweifel. Was ich fürchte, ist die Gleichgültigkeit – dieses erstickende Gefühl, dass alles gleich gültig sei, dass es keinen Unterschied mehr gebe zwischen Licht und Finsternis, Wahrheit und Trug. Eine Spiritualität ohne Ringen ist wie eine Liebe ohne Leidenschaft.


Frage: Wenn Sie einen Rat an unsere Zeit geben könnten, kurz und bündig – welcher wäre das?

Bernard von Clairvaux: Lernen Sie wieder zu hungern. Denn nur wer Hunger kennt, erkennt, was Brot ist. Die Seele hungert – und wir geben ihr oft nur Steine. Spiritualität heißt: aufhören, Steine für Brot zu halten.

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