Kölns rechtliche Sonderstellung innerhalb Preußens.


Mit der territorialen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress im Jahr 1815 wurde Köln dem Königreich Preußen zugeschlagen. Dieser formale Herrschaftswechsel bedeutete jedoch keineswegs eine vollständige Angleichung an die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Strukturen des preußischen Staates. Vielmehr entwickelte sich Köln – wie das gesamte Rheinland – zu einem innerstaatlichen Sonderraum, dessen Besonderheiten auf die vorausgehende zwanzigjährige Zugehörigkeit zu Frankreich zurückgingen. Zwischen 1794 und 1814 war die Stadt vollständig in das französische Staats-, Verwaltungs- und Rechtssystem integriert worden. Diese Phase markierte einen tiefgreifenden Modernisierungsschub, dessen Wirkungen unter preußischer Herrschaft nicht nur fortbestanden, sondern institutionell abgesichert wurden.

Kern dieser Sonderstellung war die dauerhafte Beibehaltung des französischen Zivilrechts. Mit dem Code civil war ein modernes Rechtssystem eingeführt worden, das die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die zivile Eheschließung, die Vertragsfreiheit, die Unverletzlichkeit des Eigentums und die vollständige Abschaffung ständischer Privilegien garantierte. Als Preußen 1815 die Souveränität übernahm, verzichtete es – aus politischer Notwendigkeit – auf die unmittelbare Einführung des Allgemeinen Preußischen Landrechts. Stattdessen gestattete es der gesamten Rheinprovinz die Fortgeltung des französischen Rechts in Form des sogenannten Rheinischen Rechts. Damit entstand innerhalb eines einheitlichen Staates dauerhaft ein Nebeneinander zweier fundamental unterschiedlicher Rechtssysteme – ein Vorgang ohne Beispiel in der preußischen Verfassungsgeschichte. Diese Sonderordnung blieb bis zum Inkrafttreten des Bürgerliches Gesetzbuch im Jahr 1900 bestehen.

Die rechtliche Sonderstellung beschränkte sich jedoch keineswegs auf das Zivilrecht. Auch die Gerichtsverfassung wich erheblich vom altpreußischen Modell ab. Während im Osten Preußens das schriftliche, nicht-öffentliche Inquisitionsverfahren vorherrschte, galt im Rheinland weiterhin die französische Prozessordnung mit öffentlichen mündlichen Verhandlungen, der klaren Trennung von Anklage und Gericht sowie der Beteiligung von Geschworenengerichten in Strafsachen. Diese Transparenz der Justiz stärkte das Vertrauen in den Rechtsstaat und verankerte früh ein bürgerlich-liberales Rechtsbewusstsein, das sich deutlich vom obrigkeitsstaatlichen preußischen Rechtsverständnis unterschied.

Auch die Wirtschaftsordnung folgte weiterhin französischen Prinzipien. Seit der napoleonischen Zeit bestand uneingeschränkte Gewerbefreiheit: Zunftzwang, Konzessionswesen und ständische Berufsbeschränkungen waren vollständig aufgehoben. Im altpreußischen Kernland hingegen blieben viele dieser Schranken bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten. Diese Unterschiede wirkten sich unmittelbar auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Köln konnte frühzeitig eine dynamische Handels-, Industrie- und Finanzwirtschaft entfalten, während große Teile Ostpreußens noch in vorindustriellen Strukturen verharrten.

Ein weiterer zentraler Unterschied bestand im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung. Die französische Städteordnung hatte relativ starke Stadträte, klare Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen Verwaltung und Justiz sowie eine breite bürgerliche Beteiligung an kommunalen Entscheidungen etabliert. Unter preußischer Herrschaft blieb dieses Modell im Kern erhalten. Während ostelbische Städte häufig unter enger staatlicher Kontrolle durch Landräte und Bezirksregierungen standen, verfügten rheinische Städte in Finanz-, Infrastruktur- und Baufragen über vergleichsweise große Autonomie. Köln besaß dadurch ein kommunales Eigengewicht, das weit über seine formale Verwaltungsstellung hinausging.

Auch das Verhältnis von Staat und Kirche war strukturell anders geprägt. Das napoleonische Staatskirchenrecht hatte eine weitgehende Säkularisierung eingeführt: kirchliche Gerichtsbarkeit war abgeschafft, konfessionelle Privilegien beseitigt, staatliche Aufsicht über kirchliche Organisationen etabliert. Demgegenüber bestand im altpreußischen Kernland ein enger institutioneller Verbund zwischen Staat und evangelischer Kirche. Diese unterschiedlichen Traditionen traten im 19. Jahrhundert deutlich hervor, insbesondere während des Kulturkampf, in dem das Rheinland als katholisch geprägte Region zu einem zentralen Konfliktraum der Reichspolitik wurde.

Diese rechtlich-institutionellen Unterschiede gingen mit einer abweichenden gesellschaftlichen Ordnung einher. Während in vielen Teilen Preußens weiterhin ständische Denkformen, adlige Vorrechte und ein ausgeprägt obrigkeitsstaatliches Untertanenverständnis fortwirkten, war im Rheinland das bürgerliche Egalitätsprinzip fest verankert. Der Einzelne verstand sich hier primär als Rechtssubjekt, nicht als monarchischer Untertan. Diese bürgerliche Selbstdeutung beeinflusste langfristig auch politische Partizipation, Pressewesen und Vereinsleben.

Schließlich zeigte sich die Sonderstellung auch im Verhältnis zum Militärstaat Preußen. Zwar unterlag das Rheinland der allgemeinen Wehrpflicht, doch blieb es kulturell deutlich weniger militarisiert als die östlichen Provinzen. Köln entwickelte sich als Handels-, Verkehrs- und Verwaltungsmetropole, nicht als Garnisons- oder Paradehauptstadt. Militärische Disziplin, Kadavergehorsam und Offizierskultur besaßen hier nicht denselben gesellschaftlichen Rang wie im preußischen Kerngebiet.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Köln innerhalb Preußens keine politische Autonomie und keine eigene Staatsbürgerschaft besaß, wohl aber eine einzigartige rechtlich-gesellschaftliche Sonderstellung. Durch die dauerhafte Fortgeltung des französischen Rechts, eine liberale Gerichtsverfassung, uneingeschränkte Gewerbefreiheit, starke kommunale Selbstverwaltung, ein säkular geprägtes Staatskirchenrecht sowie eine egalitäre bürgerliche Gesellschaftsordnung lebte die Stadt strukturell in einem anderen Staatsmodell als der preußische Osten. Diese innere Dualität des preußischen Staates prägte nicht nur die Entwicklung des Rheinlands im 19. Jahrhundert, sondern wirkte weit über das Ende der Monarchie hinaus auf die politische Kultur Westdeutschlands.


- Literatur -

* Hans Boldt: Deutsches Verfassungsrecht im 19. Jahrhundert. München 1985.

* Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Stuttgart 1967.

* Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: 1800–1914. München 1992.

* Georg Mölich: Geschichte der Stadt Köln, Bd. 8: Köln im 19. Jahrhundert. Köln 1997.

* Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat. München 1983.

* Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49. München 1987.

* Ewald Grothe: Rheinisches Recht und Preußischer Staat. Frankfurt am Main 2001.

* Landschaftsverband Rheinland (Hg.): Das Rheinland in preußischer Zeit. Bonn 2015.

Kommentare